Vamos Alemanha – von Recife nach Fortaleza
Hier berichtet Mark Scheppert für Fritten, Fussball & Bier von seinen Erlebnisse in Brasilien. Mark Scheppert ist der Autor der wunderbaren Bücher “90 Minuten Südamerika†und “Mauergewinner†und ist im Netz unter www.markscheppert.de zu finden.
Zurück am Busbahnhof von Salvador da Bahia mussten wir gar nicht lange warten bis wir uns auf die Plätze fallen lassen und uns sofort die gereichte Decke über den Kopf ziehen konnten. Kein „Bahia-Kerosin“ rauschte nun mehr durch unsere Adern, denn wir hatten das unangenehme Gefühl, der alten Heimat Deutschland immer näher zu kommen, obwohl wir nur innerhalb Brasiliens in Richtung Nordosten fuhren. Die langen Strecken im Bus hatten sowohl Vor- als auch Nachtteile. Zum einen war es arschkalt und sehr eng, andererseits hockten wir nicht in einem stickigen Bürokabuff bei stumpfsinniger Arbeit, hatten viel Zeit zum Nachdenken und immer die Aussicht auf ein neues Wunder. Beim Aufwachen zog der Himmel zur Bestätigung wie ein blauer Ozean über uns hinweg.
Wir erreichen Recife, die Hauptstadt und Herzkammer Pernambucos. Mit der Metro – als Berliner liebe ich Städte mit U-Bahnnetz – fuhren wir in die Innenstadt bis zur Endstation. Im Tunnelgang gab es ein unterfrequentiertes Schuhgeschäft. Nach einem dreiviertel Jahr des Reisens hatte ich meine schwarzen New Balance zwar sehr lieb gewonnen, konnte sie aber nicht mehr tragen, ohne dabei komisch auszusehen. Die Löcher waren mittlerweile so groß, dass öfter mal ein blanker Zeh herauslugte. Ich kaufte mir dunkelgrüne, zerknautschte No-Name-Turnschuhe bei „El Bundy Brasil“ und sah danach untenherum wieder halbwegs passabel aus. Meine Füße jaulten vor Dankbarkeit.
Recife soll eine der gefährlichsten brasilianischen Metropolen sein, nicht nur weil es in der Stadt, deren Name sich vom Wort „Riff“ ableitet, öfter zu tödlichen Haiangriffen kommt. Doch wir wussten ja, dass unser „Allianz-Versichertes-Leben“ lange hinter uns lag. Vor dem Metro-Ausgang erwartete uns ein bedrohlich wirkendes Hochhausmeer – oben eine glitzernde Stadt aus Glas, unten eine aus Müll und Fäkalien in stinkenden Kanälen.
Unsere Orientierung richtete sich momentan an einem gefundenen italienischen „Lonely Planet“ Reiseführer, in einem Land, wo die Leute portugiesisch reden und wir für beide Sprachen in unserem früheren Leben nicht hinreichend geschult wurden. Okay, ganz so schlimm war es nicht, da wir Spanisch können und so somit zumindest auch „auf Italienisch“ ahnten, dass wir nicht in der 39-Brücken-Stadt bleiben, sondern ins benachbarte Olinda fahren sollten. Mein universeller Wortschatz-Mix war zudem bisher immer so gut, dass der lieben Sylvie (die „Castellano“ perfekt beherrscht) fast überall gesagt wurde, sie solle mal ihren tollen Freund holen, da der ja so fantastisch die portugiesische Sprache beherrsche. Das nervte sie merklich, aber ich fand’s amüsant. Manchmal reichen eben ein paar elegante Wörter einer fremden Sprache, um die Herzen zu erobern. „Por favor“ (Bitte), „Obrigado“ (Danke), „Muito bom“ (Super) gehören ebenso dazu wie „Não†(Nein!), „Cerveja†(Bier) und „Dois mais†(noch zwei). “Brasilianisch†ist eine Sprache, die einen gewissen Swing und eine melodische Unbekümmertheit ausstrahlt. Eine Sprache zum Verlieben.
Mitten im Zentrum stiegen wir in einen Lokalbus und fuhren etwa 7 Kilometer, um in eine der ältesten historischen Orte des Landes zu gelangen. Doch in der idyllisch auf grünen Hügeln gelegenen Denkmalsstadt schien – im Gegensatz zum vermeintlich so unsicheren Recife – der Hund begraben zu sein. All die schnuckeligen Kopfsteinpflaster-Straßen entlang reich verzierter, pastellfarbener Kolonialhäuser – mit den bunten Graffitiwänden an Ateliers und Kunstgeschäften – waren menschenleer.
Sylvie kam zudem auf die brillante Idee, nach der anstrengenden 15stündigen Bustour, sieben verschiedene Hotels anschauen zu wollen – natürlich alle weit verstreut und oftmals mit Zimmern im 5. Stock, wo wir 72 Treppen zur Begutachtung hinaufstiefeln mussten. Irgendwann hatte ich die Schnauze gestrichen voll und beschloss, dass wir in die hübsche (ebenerdige) „Pousada São Francisco“ am Marktplatz einziehen würden. Mein Mädchen war stinksauer, nur weil diese Unterkunft umgerechnet zwei Euro mehr kostete. Manchmal verstand ich den kleinen Dickkopf und Sparfuchs wirklich nicht. Aber wir stritten nicht allzu lang, da uns die Besitzer zur Begrüßung – es war nun etwa 12 Uhr mittags – eine kühle Caipirinha in die Hand drückten, mit dem Hinweis, dass wir diese doch am hellblau schimmernden Swimmingpool trinken sollten. Das brachte den erhitzten Gemütern endgültig zur Abkühlung und nach einem Mittagsschlaf sah die Welt sowieso wieder blendend aus. Wir begannen uns – wie schon oft in Brasilien – so wohlzufühlen, dass es unmöglich war, sich daran zu erinnern, warum wir eigentlich mal gestritten hatten.
Um 14 Uhr war ich wieder fit, wie meine neuen Turnschuhe und wanderte allein durch die verträumte Kleinstadt, welche immerhin 360.000 Einwohner haben soll. Wären wir nicht zuvor in Salvador da Bahia – mit seiner Ãœberdosis an Schönheit – gewesen, hätte ich begeistert meine Kamera gezückt und die Altstadt, mit ihren gut erhalten Kirchen und Museen sicher auf mehr als nur vier Bildern festgehalten. Wahrscheinlich waren die Festplatten meiner Sinne einfach nur voll nach dieser langen Reise. Allerdings war das hiesige Zentrum, mit den kachelverzierten bunten Häusern und den maurisch wirkenden Balkonen, auch nur so groß, wie drei läppische Straßenzüge in der bedeutenden Stadt an der weitausholenden Bucht. Lediglich die „Igreja Nossa Senhora des Neves“, umzingelt von gigantischen Palmen, war einmalig fotogen.
Ich holte Sylvie und wir beschlossen, da es allmählich schwülwarm geworden war und Olinda über keinen vernünftigen Strand verfügte, nochmals zurück nach Recife zu fahren.
Schnöde Beach-Abhänger, obwohl das in Morro de São Paulo vielleicht so rüberkam, waren wir eigentlich nicht. Wir wollten lediglich die „Copacabana des Nordostens“ begutachten.
Der 7 Kilometer lange Strand in Boa Viagem war in drei Jardins (Gärten) unterteilt und hatte letztendlich recht wenig mit seinem großen Bruder in Rio gemein. Es fehlte irgendwie das Flair, die kleinen grünen Hügel im Wasser und auch die faszinierende Harmonie der Rassen und Menschen aller Hautfarben war nicht vorhanden. Ausschließlich Afro-Brasilianische Jungs spielten schweißjagendes „Futevolei“ (diese Mischung aus Volleyball und Fußball) und weiße Polizisten fuhren Streife. Genau an diesem Strand wurde der Italienerin Felicia, die wir in unserer Pousada getroffen hatten, ein Messer an den Hals gehalten, um sie zur Herausgabe von „lächerlichen“ 50 Real zu bewegen. Seitdem schloss sie sich mehr oder weniger in Olinda ein. Uns passierte nichts. Wir nahmen uns wie zwei Kinder bei der Hand und tranken „Cerveja Skol“ an einem gelben Kiosk. Ein winziger Hauch von Bedrohung war zwischen den Gärten des Meeres immer zu spüren. Und obwohl wir wussten, dass heute laut Reiseführer „Terca Negra“ (schwarzer Dienstag) war, wo Bands im Altstadtviertel „Recife Antigo“ mit Forro-Rhythmen einheizten, machten wir uns kurz vor dem Sonnenuntergang aus dem Staub.
Wir kamen also zurück in den Ort, der durch den Satz eines der Gründer seinen Namen erhielt: „O, linda posicao para uma vila!“ Recht hatte er: eine schöne Lage für eine Stadt, nur dass heute riesige Strohballen durch die steilen Altstadtgassen kullerten. An Wochenenden und vor allem während des Karnevals (einer der bekanntesten und am wenigsten kommerzialisierten Brasiliens) soll es auf den Straßen und in den Bars der „Schönen“ fürchterlich abgehen. An einem Dienstagabend im Juli konnten wir uns dies jedoch nicht mal ansatzweise vorstellen. Egal, denn die himmlische Ruhe ließ auch die innere zurückkehren. In einem Café mit Innenhof aßen wir herzhafte Crêpes und Käse-Tapiocas, genossenen die lauschige Stimmung, das subtropische Grillen-Zirpen und das von Nachfahren der Zuckerbarone gereichte süße Getränk. In der Pousada lockte zudem der menschenleere Pool in seine lauwarmen Fluten. Auf einer Liebeshängematte ließen wir den Rest des Abends ausschaukeln. Einfach mal abhängen und die Magie des Augenblicks genießen.
Unsere Gastgeber waren, wie schon so oft in Brasilien, unbarmherzig herzlich, sodass wir die Hütte und das Wohlfühlbecken bis 17 Uhr des nächsten Tages belagern durften. Der Tag verging mit einem letzten Bummel im UNESCO-Kulturerbe-Dorf und einer Stärkung zum Mittag. Gegen 19 Uhr trafen wir schließlich am Busterminal von Recife ein. Leider erwartete uns nun der nächste Höllenritt nach Fortaleza. Wir hatten sogar ein Hotel telefonisch vorgebucht, da dort gerade das brasilienweit bekannte Musikfestival „Fortal“ stattfand und fast alle Unterkünfte ausgebucht waren. Wir zischten drei Brahma, eine Alkoholmenge, die uns bald einschlafen ließ und die, in Litern gemessen, verhinderte, allzu oft die enge Bordtoilette besuchen zu müssen.
Nach einer anstrengenden Fahrt erreichten wir die fünftgrößte Stadt Brasiliens. Wie immer war es arktisch kalt unter der Klimaanlage gewesen und langsam meldeten sich die ersten spürbaren Erkältungssymptome. Das eigentlich Ärgerliche: wir waren gerade über 1.000 Kilometer gereist und hatten die „grünste Stadt der Welt“ Joao Pessoa, von Göttern erschaffene, delfinverseuchte Strände, wie Praia do Pipa, und ein verwunschenes Hinterland einfach links liegen gelassen. Falls es jemals wieder eine Fußball-WM auf brasilianischen Boden geben wird, werde ich dieser Region wesentlich mehr Ehrerbietung zollen.
Schon beim Erreichen Fortalezas wurde uns das Hauptproblem der tropischen 2,8 Millionen-Metropole deutlich vor Augen geführt. Der Unterschied zwischen Arm und Reich schien hier noch extreme Ausmaße zu haben. Am Strand von Meireles und am „Praia do Futuro“ war alles superschick, mit schilfgedeckten Restaurants, edlen Boutiquen und Straßen, die wie geleckt aussahen. Auf ihnen krochen protzige, schamponierte Autos entlang. Doch nur ein paar Blöcke weiter sahen wir das komplette Gegenteil: Dritte-Welt-Elend. Ein Großteil der Bevölkerung soll hier n Favelas wohnen – in der bekanntesten (Picambu) sogar über 150.000 Menschen. Doch was heißt eigentlich Elend? Vielleicht in unserer deutschen Weltverbesserer- und Gutmenschen-Mentalität, die keinerlei Dreck, offene Abwasserkanäle, wirr verzweigte Stromkabel, zerrissene T-Shirts und verbeulte Sandalen duldet. Die Menschen, die wir trafen, ob jung oder alt, hatten alle ein gemaltes Lächeln im Gesicht und wir konnten ihnen ohne Betroffenheits-Fresse entgegentreten. Die Wirklichkeit ist manchmal eine viel heilere Welt als wir glauben.
Bei der Ankunft gönnten wir uns in der vorgebuchten, knastähnlichen „Pousada Veleiro“ im Centro – umgeben von Schuttbergen und Hochhäusern – einen Mittagsschlaf. Dann gingen wir in ein Touristenbüro, um Inlandsflüge nach Belem – dem Einfallstor zum Amazonas – zu ergattern. Leider waren diese zu teuer, sodass wir wieder am Busbahnhof landeten, um die letzten zwei Tickets für eine Fahrt bis nach Sao Luis zu bekommen. Mein Geburtstag stand vor der Tür und den wollten wir nicht unbedingt in Fortaleza feiern. Allerdings würde die morgige Bustour – laut Zeitplan – wieder etwa 18 Stunden dauern und wäre somit die dritte Langstrecke innerhalb von nur vier Tagen. Das fanden wir lustig, weil wir bescheuert waren.
Dennoch – oder gerade deswegen – mussten wir uns ins pralle Leben stürzen. Im Lokal-TV wurde über nichts anderes als das Fortal-Festival berichtet – das machte uns neugierig.
Am Abend gingen wir zum Stadtstrand von Iracema. Vor dem Meer lagen etliche „Jagandas“ – urzeitlich anmutende Segelflöße – im Sand. Noch heute fahren Fischer mit diesen, aus ein paar Rundhölzern gebauten, kolonialzeitlichen Booten mit gehisstem Segel auf Fischfang, während die Jungen die primitiven Nussschalen für touristische Ausflüge missbrauchen.
Zu dieser Zeit war auf dem Boulevard ein farbenfroher Markt aufgebaut und die Restaurants hatten Tische und Stühle auf den Strand gestellt. Es herrschte eine fantastische Stimmung – auch am restaurierten Bootsanleger Porte dos Ingles mit einem Herrscher-Blick auf die lang gezogene Bucht von Fortaleza. Wir genehmigten uns zwei dickbäuchige Gläser Caipirinha im so genannten Schwimmbadclub. Dort trafen wir auch einen Carlos, der uns erzählte, dass dieser Stadtteil nach einer weiblichen Hauptfigur des Autors José de Alecar benannt ist. In dessen Roman von 1925 heißt die „Frau mit den Honiglippen“ Iracema und nun trägt einer der quirligsten Viertel Brasiliens ihren Namen. Manchmal kann einen schon die Poesie eines Ortes fesseln. Und dann hatte man auch noch die schönste Frau der Welt an seiner Seite!
Wir hätten nur eine Pasta mit Meeresfrüchten bestellen sollen, denn die Portionen waren überdimensional groß. Obwohl ich gerade vollkommen bewegungsunfähig war, überzeugte mich Sylvie, genau jetzt zum „Fortal“ zu fahren. Per Taxi brauchten wir im Stau über eine Stunde, um hinzugelangen und als wir endlich ausstiegen, sahen wir schon von weitem, was uns erwarten würde. Mit tausenden Menschen liefen wir in Richtung der „brasilianischen Loveparade“. Der Caipi und das Bier drückte auf die Blase und auf dem Weg urinierte ich einfach – zusammen mit zwei leicht bekleideten Frauen und etlichen Typen – in den Wald. Mittlerweile sollten hier, laut unserem Taxifahrer, eine halbe Million Menschen unterwegs sein. Das größte Musikevent der Region – nach dem Karneval das Highlight – mit Gruppen, die im ganzen Land angesagt sind, zog all die Verrückten Nordbrasiliens in ihren Bann.
Vor den eng zulaufenden Eingangsgattern herrschten im dichten Gedränge albtraumhaft- klaustrophobische Zustände und wir waren schnell verschwitzt wie deutsche Schweine.
Ob es am Fieber, der Hitze, der haarsträubenden Intensität oder der Aufregung lag? ‚So muss man sich fühlen, wenn man in einer unbekannten Stadt während einer Fußball-WM zehn Minuten vor Spielbeginn ohne Karten vor dem Stadion aufschlägt‘, dachte ich irritiert. Als „blonder Engel“ fiel ich zudem aus dem gewohnten Raster. Fast alle Besucher starrten mich ungläubig an. Doch zum Glück bedurfte es mit Sylvie keinerlei Diskussion: Abbruch!
Wären wir mit mehr Zeit und ohne die bevorstehende 18stündige Busfahrt im Hinterkopf zu haben, geblieben und hätten mitgefeiert? Ich weiß es nicht. Menschenaufläufe wirken auf mich oftmals bedrohlich und verursachen Mini-Panikattacken, aber manchmal ziehen sie mich auch magisch an und ich verschmelze mit der Euphorie der Massen. Das Leben muss manchmal auch lärmen und laut sein. Heute nicht. Punkt. Bei einer Fußball-WM wäre ich versackt – und hätte mich kübelweise mit Glücksgefühlen überschütten lassen.
Somit ging es zurück in die Nähe unserer Pousada. Wir genossen die laue Sommernacht einem kleinen Pub. Im TV wurde das „Fortal“ live übertragen. Kurz bevor wir gehen wollten, enterte eine Reggea-Salsa-Band den Laden. Die scharfen Jungs und beinahe barbusigen Frauen wurden zu einem vom Zufall inszenierten Bühnenbild für eine verpasste Gelegenheit unseres Lebens. Wir tanzten mit anderen Gästen bis tief in die Nacht auf der Straße. Fieber!