Standardgemäß…
Hier schreibt Udo Lindenlaub eine exklusive Kolumne für Fritten, Fussball & Bier. Udo Lindenlaub ist der Autor des wunderbaren Buches „Von Asche zu Asche“.
Ein allseits beliebtes Periodikum für Fußballkultur hat seit vorletzter Ausgabe zwei höchst lesenswerte Rubriken ersonnen. Zum einen inthronisierte man für ein journalistisches Comeback den kauzigen und höchst unterhaltsamen Hans Meyer, um in Interviewform aktuelle Tendenzen des Geschehens zu sezieren: Mein Opener bei der Lektüre.
Ferner erklärt uns ein Vertreter der DFB B-Prominenz Details aus Trainingslehre und Taktikanalyse unseres Sports. Bei der jüngsten Expertise aus der „Fußballschule“ mit Frank Wormuth wurde ich jäh hellhörig, da er Intimes zu einem meiner Lieblingsärgernisse preisgab: Die Standardsituationen. Letztlich lässt er es offen, ob es sich lohnt, Standards einzuüben oder nicht, da die Frage nicht beantwortet werde könne, ob sich der Aufwand für den Ertrag lohne. Als ein schillerndes Beispiel zieht er die deutsche Nationalmannschaft heran, die seit ewigen Zeiten kein Tor mehr nach einer Ecke erzielt habe. Nach seiner Schlussfolgerung lohne es sich demnach nicht wirklich, Standards einzustudieren. Denn, so schwingt es unterschwellig mit, begeistere die Auswahl ja auch ohne effiziente Ecken.
Genau hier traf er zentral in meinen ganz persönlichen, vegetativen Strafraum. Denn deutsche Eckbälle stinken mir gewaltig, roch man doch früher den gegnerischen Angstschweiß förmlich durch den Fernseher hindurch, wen teutonische Recken wie Briegel, Bierhoff, Rehmer oder Augenthaler zur Vollstreckung parat standen. Gleichzeitig fragt man sich heute kopfschüttelnd, warum eine 2 Meter-Kante wie Mertesacker stets harmlos wie ein Messdiener bleibt. Hier bleiben eigentlich nur zwei Rückschlüsse: Entweder die Ecken werden signifikant schlechter getreten, oder sie werden in dem Maße schlechter verwertet, wie die gegnerische Abwehrleistung verbessert wurde. Für mich trifft beides zu. Ersteres lässt sich ganz leicht beobachten: Die Hälfte aller Ecken wird dadurch leichtfertig verschenkt, indem der Schütze, für den Zuschauer unerträglich, aus purer Unkonzentriertheit flach in die Beine des erstpostierten Abwehrspielers geigt. Zweites ist ebenjene Folge daraus, dass es einfach nicht mehr trainiert wird.
Wormuth listet ein scheinbar imposantes Zahlenwerk auf, nämlich, dass in der Bundesliga lediglich…
- 2,1 Prozent, also jede 50 Ecke,
- 4,2 Prozent aller direkten und
- 3,9 Prozent aller indirekten Freistöße zum Erfolg führen.
Das soll gering klingen, ist jedoch bei genauerer Betrachtung ein Trugschluss. Denn wen man davon ausgeht, dass man vielleicht 10 Eckbälle in einem Spiel hat, erzielt man immerhin in jedem fünften Spiel ein Tor. Addiert man die beiden Freistoßquoten noch hinzu, kann man davon ausgehen, dass man mindestens in jedem zweiten Spiel ein Tor nach einem Standard erzielt. Darüber hinaus führen die scheinbaren Bezugsgrößen seiner Rechnung in die Irre: Die zu Grunde gelegten Zahlen sind schließlich für alle Mannschaften gleich, da sie aus der Summe aller 18 Vereine entstand. So ist es im Gegenteil ein Leichtes, sich mit einer durch erhöhten Trainingsaufwand verbesserten Erfolgsquote von den anderen Mannschaften abzuheben. Die Erfahrung scheint dies zu bestätigen: Jörg Berger, der Urvater aller Feuerwehrmänner, hat nach eigener Aussage nie etwas anderes gemacht als Starkreden des Personals und Standards üben. Und der FCN ragt in diesem Jahr im Vergleich auch genau deswegen heraus, weil man seit ewigen Zeiten mit Ekici endlich mal einen Spieler hat, der vernünftig schießen kann, und die kümmerlichen Quoten so um ein Vielfaches erhöhen konnte.
In Bezug auf die Nationalmannschaft hat Wormuth ein weiteres wichtiges Detail vergessen. Gerade in ausgeglichenen Spielen auf höchstem Niveau ist die Wahrscheinlichkeit enorm hoch, das Spiel mit einem Standard für sich zu entscheiden. So verlor Deutschland das Halbfinale gegen Spanien ausgerechnet mit einer urdeutschen Waffe: Eine simple, aber perfekt einstudierte Eckballvariante.
Daher hat die Nationalmannschaft erst dann wieder richtige Titelchancen, wenn sie bei allen verzückenden spielerischen Quantensprüngen der jüngsten Vergangenheit auch wieder lernt, Furcht bei Standards zu verbreiten. Defensiv wie Offensiv.
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