Schwarz und bunt – Salvador da Bahia
Hier berichtet Mark Scheppert für Fritten, Fussball & Bier von seinen Erlebnisse in Brasilien. Mark Scheppert ist der Autor der wunderbaren Bücher “90 Minuten Südamerika†und “Mauergewinner†und ist im Netz unter www.markscheppert.de zu finden.
Pascal, einer meiner besten Freunde, ist ein Mischling. Ja, ein Schwarzer, Dunkelhäutiger, Mulatte, oder eben Deutsch-Afrikaner. Er begreift diese Begriffe nicht als Schimpfwörter, da auch er seine Mitmenschen nach Äußerlichkeiten umschreibt. Vor vielen Jahren erzählte er mir mal folgende Geschichte: Bis zum Alter von 8 Jahren realisierte er gar nicht, dass er anders aussah, als die anderen Kinder seiner Klasse. Er sprach dieselbe Sprache (mit urigem Berliner Dialekt), hatte dieselben Hobbys und spielte den Erwachsenen die gleichen Streiche wie alle Kids in seinem Alter. Er duldete keine Einschränkung seiner Freiheit.
Es kam der Tag, an dem ein dunkelhäutiger Onkel über ein Visum aus Westberlin erschien und mit ihm in der U-Bahn zum Alex fuhr. Genau während dieser Fahrt merkte er erstmals, dass mit ihm etwas nicht „stimmte“. Unzählige Passagiere drehten sich nach den beiden um, tuschelten und kurz vor der Endstation zeigte ein Kind mit dem Finger auf ihn und rief laut zu seinen Eltern: „Guck mal, die Negerpuppe kann ja sprechen!“ In der DDR gab es leider ein Spielzeug, das unter dem sinnfreien Namen „Negerpuppe“ in volkseigenen Läden verkauft wurde. Zwei „lebendige“ schwarze Menschen waren in jener Zeit in Ostberlin eine echte Sensation – für das geschockte weiße Kind sicherlich umso mehr.
Neger – ich tue mich heutzutage schwer damit, dieses Wort zu niederzuschreiben, denn ich komme aus einem Land der politischen Korrektheit, in dem man, historisch bedingt, äußerst vorsichtig in seiner Wortwahl gegenüber Andersfarbigen sein muss. Gleichzeitig lebe ich im Land der „Weißen“, in dem unterschwelliger Rassenhass nicht nur theoretisch existiert.
Während der Busfahrt dachte ich an die Story da ich vor kurzem „Herren des Strandes“ von Jorge Amado gelesen hatte. In wenigen Stunden würden wir Salvador da Bahia erreichen, die Stadt der Negerpriesterinnen, Negerheiligen und Negergöttinnen – wie der Autor sie wortwörtlich nannte, der Ort mit dem seltsamsten Menschenschlag Brasiliens, in dem kräftige Mulatten und schwarze Vagabunden ihr Unwesen treiben und ihre Blicke kaum von den Brüsten und Schenkeln kleiner Negerinnen mit tänzelndem Gang wenden können. In Reiseführern heißt es, dass 80 % der Bevölkerung Salvadors Afro-Brasilianer sind und die ehemalige Hauptstadt die kulturelle, religiöse und musikalische afrikanische Seele das Landes sein soll. Als wir den Busbahnhof erreichten, war ich dennoch geschockt. Alle (!) waren schwarz und ich hatte das Gefühl, dass uns auch jeder anstarrte. Sylvie fiel mit ihren dunklen Haaren gar nicht auf. Doch ich, mit meinem flatternden Blondhaar und dem käsigen Gesicht, fühlte mich, als ob ich soeben im Dschungel von Schwarz-Afrika abgeworfen wurde. Ein dunkelhäutiger Krakeeler zeigte mit dem Finger auf mich und brüllte etwas, was den halben Bahnhof zu amüsieren schien. „Guck mal, das Persil-Paket kann ja sprechen“, könnte es gewesen sein. Es gab dort keine Harmonie der Rassen, dass es einem augenblicklich ganz warm ums Herz wurde und zum allerersten Mal im Leben ahnte ich, wie es ist, „anders“ zu sein. Wir waren umgeben von Mördern und Dieben. Nein! Niemand krümmte uns ein Haar und mit unerwarteter Herzlichkeit erklärte man uns, wie wir ins Zentrum gelangten.
Auf dem Weg trafen wir unseren ersten weißen Menschen seit einer halben Stunde. Es war ein Deutscher, der vor über 50 Jahre ausgewandert war, um in der schönsten Stadt der Welt zu leben. Mit Witz und Charme begleitete uns Bruno auf der fast einstündigen Fahrt nach Pelorinho und stellte uns seine Stadt vor. Zu fast jeder Häuserzeile, aber auch zum Fußball-Stadion kannte er unzählige Geschichten und recht schnell merkten wir, dass er „die Negerstadt“ Amados über alles auf der Welt liebte. Die noch im 17. Jahrhundert größte Stadt der Südhalbkugel und ehemalige Hauptstadt Brasiliens ist heute mit fast drei Millionen Einwohnern die drittgrößte Metropole des Landes. Wir waren fast ein wenig traurig als wir das historische Zentrum in der so genannten „Oberstadt“, erreichten, da wir uns nun verabschieden mussten.
„Pelorinho“ – so der Name des Stadtteils, den wir nun betraten, bedeutet übersetzt Pranger und war einmal Teil des größten Sklavenmarktes Südamerikas, wo der Hauptteil der fünf Millionen Sklaven vor Jahrhunderten aus Westafrika ankam und nicht wenige von ihnen an diesem Steinpfosten ausgepeitscht wurden. Noch heute ist die bestimmende Hautfarbe schwarz. Doch das vormals heruntergekommene Viertel wurde aufwendig saniert und gehört seitdem zum UNESCO-Weltkulturerbe. Demnach waren die Menschen weiße Touristen gewohnt. Niemand beachtete uns bei der Suche nach einer Unterkunft. Von der schließlich gebuchten Behausung, konnten wir auf einen Platz mit futuristischem Brunnen schauen und das bunte Treiben auf den Straßen beobachten. Wir hielten uns gar nicht lange am Fenster auf, sondern stürzen uns sofort ins pralle Leben!
Die Menschen in Salvador sollen für ihre Lebensfreude, ihre Lust am Musizieren und am Tanzen bekannt sein. Bereits bei den ersten Schritten über die heißen Pflastersteine der beeindruckend hübschen Altstadt bekamen wir das zu spüren. Ãœberall erklang Musik aus Bars und Cafés, die Menschen tanzten spontan auf der Straße und das alles ohne, dass es aufgesetzt wirkte. Direkt vor dem berühmten Art-Deco-Fahrstuhl „Elevador Lacersa“, mit dem man die 72 Meter tiefergelegene „Unterstadt“ erreichen kann, zelebrierte eine Gruppe dunkelhäutiger Jungs gerade eine Capoeira-Vorstellung. Wir waren beeindruckt, was man mit seinem Körper in dieser Mischung aus Tanz, Geschicklichkeit, Kampf und Spiel alles so anstellen kann.
Vor der Aussichtsplattform – mit herrlichem Blick auf das „Tor des Meeres“ – stand eine schwarze, vollbusige Figur. So viel wusste ich durch Amado: in Salvador werden vor allem die mutigsten und tapfersten Frauen von der schwarzen Bevölkerung nach ihrem Tode als Heilige verehrt. Wir fühlten uns gut aufgehoben, denn durch die Restaurierung der Altstadt war eine Gegend wiederbelebt worden, die zuvor als extrem gefährlich galt. Viel zu spät bemerkten wir jedoch, dass uns bei der Hotelwahl ein Fehler unterlaufen war, denn der Brunnen begann alle halbe Stunde riesige Fontänen auszuspucken. Doch damit nicht genug: dazu erklang eine unfassbar laute, klassische Musik. Am Tage wäre das ja alles zu ertragen gewesen, aber nicht nachts, halbstündlich und vor unserem Fenster. Sylvie lehnte sich um 4 Uhr neben mir mit hängenden Brüsten weit über die Brüstung, da sie das alles nicht glauben konnte. Der Mond übergoss den Platz mit goldgelben Licht. Irgendwo in der Ferne sang jemand eine traurige Samba und das Schluchzen eines Mädchens war zu hören.
Nach zu wenig Schlaf tauchten wir wieder in das faszinierende Leben ein. Die Sonne überzog die pastellfarbenen Häuserfassaden mit einer sanften Helligkeit und schon nach kurzer Zeit spürten wir die einzigartige Freiheit, die Straßen dieser Stadt durchstreifen zu dürfen. Nach einem Cafezinho, den wir an einem rollenden Kiosk von einem frech grinsenden Jungen gekauft hatten, der so schwarz, wie der von ihm gereichte kleine Kaffee war, kamen wir an unzähligen Galerien, Kunst- und Trödelläden vorbei. Die Kopfsteinpflaster-Plätze und alten Kirchen zogen uns magisch in ihren Bann und ergaben prächtige Fotomotive.
Später entdeckten wir endlich das Wohnhaus von Jorge Amado. Schräg gegenüber befand sich das Museum, wobei uns die Fotos und eine Ãœbersicht seiner Bücher nicht gerade zu Begeisterungsstürmen veranlassten. Vor der Tür gab es eine Skulptur aus Stahl, namens Exu, welche laut Amado ein Kind darstellen soll, dass es liebt, sich vagabundierend auf den Straßen herumzutreiben, Streiche zu spielen und keine Einschränkung seiner Freiheit duldet.
Nach einem Mittagsschlaf und ein paar Bahia-Frikadellen (Bällchen aus brauen Bohnen, Salz, Zwiebeln und serviert mit einer Creme aus zermahlenen Krabben, Nüssen, Kokosmilch und Öl) stürzten wir uns einmal mehr ins lebendige Nachtleben. Schon zuvor hatten wir erfahren, dass wir genau zur richtigen Zeit in der Stadt waren. Am Abend fand, wie jeden Dienstag, das Open Air Fest „Dia & Noite“ statt. Unglaublich, aber die Stadtverwaltung bezahlt tatsächlich allwöchentlich die diversen Rhythmusgruppen, Trommler und Musiker damit sich kalkweiße Touristen die Darbietungen kostenlos anhören können. In Berlin feiert man einmal im Jahr beim „Karneval der Kulturen“ das Miteinander aller Hautfarben – in Salvador jeden Dienstag!
Eine ständig wachsende Menschenmenge wälzte sich wenig später chaotisch durch die nunmehr eng wirkenden Straßen der Stadt, denn nicht nur auf dem Hauptplatz des Viertels sangen und tanzten die Gruppen – die ganze Altstadt war nun eine Bühne. Die Leute bewegten sich rhythmisch im Strom durch die Gassen. Zusätzlich gab es überall fliegende Händler bei denen wir günstige Snacks und Dosenbier bekamen. Allerdings gab es noch immer keine Spur von den räuberischen und stolzen „Herren des Strandes“. Wir sahen aber auch nirgends verwahrloste Straßenkinder in Lumpen und Taugenichtse die Klebstoff schnüffelten, stahlen oder Frauen (und blonde Männer) belästigten. Der größte Barock-Slum der Welt – aus den Zeiten Amados – hatte sich in dieser Hinsicht deutlich verändert. Nur ein schwarzgelockter Junge im Alter von 10 Jahren, der gekonnt mit fünf Kokosnüssen jonglierte und dabei freudestrahlend seine blitzenden weißen Zähne zeigte, erinnerte mich an die Jungs mit Namen wie Hinkebein, Kater, Joao Grande, Gottesliebling und Pedro Bala, die trotz allerlei Flausen im Kopf immer einen Stern an der Stelle des Herzens trugen.
Besonders Sylvie konnte vom bunten Treiben nicht genug bekommen und wollte mit mir bis weit nach Mitternacht um die Häuser ziehen. Aber auch ich konnte die Blicke kaum von den Schenkeln und Brüsten der dunkelhäutigen Frauen abwenden, die ekstatisch und mit elegantem Hüftschwung Lambada und Samba tanzten. Doch die schönste Frau, mit dem zärtlichsten Blick der Welt, befand sich an meiner Seite. In diesem Moment wusste ich, dass unter den tausenden Sternen über Salvador da Bahia gerade nur einer für mich leuchtete.
Bis bald, du wunderschöne Negerstadt. Ich tue mich auch jetzt noch schwer damit, dieses Wort zu niederzuschreiben, denn ich komme aus einem Land der politischen Korrektheit, in dem man äußerst vorsichtig in seiner Wortwahl gegenüber Andersfarbigen sein muss. Gleichzeitig lebe ich in einem Land der „Weißen“, in dem unterschwelliger Rassenhass noch immer an der Tagesordnung ist. Auf nach Brasilien!
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