Deutschland gegen Schweden – damals in Brasilien…
Hier schreibt Mark Scheppert eine Kolumne oder sagen wir mal seine Erlebnisse für Fritten, Fussball & Bier auf. Mark Scheppert ist der Autor der wunderbaren Bücher “90 Minuten Südamerika†und “Mauergewinner†und ist im Netz unter www.markscheppert.de zu finden.
(Leseprobe aus „90 Minuten Südamerika“ – Vorrunde und Achtelfinale WM 2006)
…und jetzt geht es nach Brasilien. Mein Bild von dem Land ist nicht gerade geprägt von braungebrannten Schönheiten, die, mit einem Caipi in der Hand, Lambada tanzen. Mir erscheint nicht sofort ein farbenfroher Karneval vor dem geistigen Auge und auch kein einsamer Indio, der friedlich auf dem Amazonas dahin dümpelt. Ich sehe gefährliche Favelas schier endlos die Berge hinaufklettern. In ärmlichen Bretterbuden wohnen Kinder, die bereits mit acht ihren ersten Raubüberfall und mit zehn einen bestialischen Mord begangen haben. Im Internet spukt es nur so vor Reisewarnungen. Es ist ein Land mit immenser Kriminalität und professionellen Drogen- und Killerbanden.
Wir fliegen Foz do nach Rio de Janeiro, das sich selbst ganz bescheiden, als schönste Stadt der Welt rühmt, aber eben auch eine der gefährlichsten sein soll. Mit einem Taxi fahren wir über die Grenze nach Foz de Iguaçu. Unser Flug hat Verspätung. Das bedeutet, dass wir mitten in der Nacht ohne Bettenbuchung in der Millionenmetropole landen werden.
Im Flieger begrüßen uns Stewardessen, die während der WM voller Stolz das Brasilientrikot tragen. Der Pilot gibt alle paar Minuten Informationen durch. Allerdings nicht über das Wetter oder die Flughöhe, sondern irgendetwas, das die Maschine jedes Mal gehörig zum Schwanken bringt. Nach der dritten Durchsage haben wir es dann auch endlich kapiert. Viermal wankt die Boing bedenklich von links nach rechts. Brasilien besiegt Japan mit 4:1. Auch Ronaldo traf zweimal, zeigt mir eine ältere Dame ganz aufgeregt mit zwei Fingern.
Am Terminal von Rio sind die Menschen außer Rand und Band. Es war das letzte Vorrundenspiel, Brasilien hatte sich längst für das Achtelfinale qualifiziert, aber schon jetzt drehen die Leute durch, als wäre der Cup wieder in der Heimat. Ãœberglücklich drücken sie uns Bier in die Hand und erwarten, dass wir die Gänge entlang tanzen.
Vor einer Sache wird von offizieller Seite dringend gewarnt: Am Flughafen sollte man sich auf keinen Fall von Leuten anquatschen lassen, die sich mit einem das Taxi teilen wollen. Man werde möglicherweise ausgeraubt und nur mit Unterwäsche bekleidet zurückgelassen. Uns spricht ein höflicher Kanadier an, ob wir uns die Kosten dritteln wollen. Er sieht sympathisch aus und so steigen wir ins Auto. Nur mit Unterwäsche bekleidet, liegen wir 45 Minuten später auf den Betten eines Hotels am halbmondförmigen Strand der Copacabana. Der Fahrer hatte uns auf dem Weg begeistert gezeigt, wo Ronaldo das Fußballspielen erlernt hatte und wo er, die Tante und sein Opa mal wohnten. Die Caipirinha am Strandkiosk schmeckt, wie der erste Eindruck von diesem Flecken Erde: paradiesisch!
Gleich am zweiten Tag spielt Deutschland sein Achtelfinale gegen Schweden. Die Brasilianer interessieren sich scheinbar überhaupt nicht für die Spiele der anderen Teams. Bei eigenen Partien ist die Hölle los, aber sonst sind die Kneipen leer. Es gibt dann auch keine Vor- oder Nachberichterstattung. Die Fußballsendung startet parallel mit dem Anpfiff und unmittelbar nach dem Schlusspfiff beginnt eine bekannte Telenovela. Kein brasilianischer Netzer und Delle, sondern „Prova de amor“ und „Belissima“. Dann füllen sich die Bars auch wieder.
Um 12 Uhr Mittags sitzen Sylvie und ich ganz allein an der Copacabana in einer Strandbar vor einem Flachbildschirm. Die beiden Tore von Poldi werden auch in Rio de Janeiro frenetisch gefeiert. Ein Mensch im Trikot der Deutschen hatte sich das Jubeln längst bei den Brasilianern abgeschaut. Viele kommen in Badeshorts an unseren Tisch, klopfen mir auf die Schulter und gehen dann lächelnd weiter. Einige sprechen uns an und wollen wissen, was wir im Verlauf der WM erwarten. Mit dem Spruch: „Final? Alemanha – Brasil!“ können wir ganz schnell ihre Herzen erobern.
Was für eine Stadt! Was für eine Zeit! Die Bögen von Lapa mit ihrer Partystimmung und Argentinien gegen Mexiko. Der Corcovado mit seiner Jesusstatue und Portugal gegen Holland. Der Strand von Ipanema mit heißen Girls und England gegen Ecuador. Das gigantische Maracanã-Stadion und Italien gegen Australien. Wir fahren U-Bahn, Bus, Seilbahn, Taxi, Boot und schweben zu Fuß über die geriffelten Mosaiksteine der Copacabana. Ãœberall, an jedem Strand und auf jeder noch so winzigen Grünfläche spielen die Menschen Fußball. Kinder, Jugendliche, alte Männer und selbst Frauen. Ich bin am schönsten Ort der Erde und es laufen die Achtelfinals einer Fußball-WM. Kann das nicht immer so bleiben? Es ist ein Traum mit Zuckerhut. Doch Rio sprengt unser Budget, sodass wir beschließen, nach Parati zu fahren.
Der kleine Fischerort sieht aus, als fände die WM hier statt. Alle Kopfsteinpflaster-Straßen sind mit grün-gelb-blauen Girlanden geschmückt. Eine gigantische Choreographie, die in ihrer Gesamtheit die brasilianische Flagge ergibt. Einige Anwohner haben sogar ihre Häuser mit kunstvollen Bildern ihrer Fußballgötter bemalt. Ronaldo und Ronaldinho grinsen uns überall an. In einer Gasse werden zwei Fernseher von der Nachbarschaft in den Vorgarten geschleppt. Direkt daneben stehen der Grill und ein beeindruckend großer Tiefkühler, in den gerade kistenweise Bier geladen wird. Brasilien spielt und wir werden sofort dazu genötigt, das Match gegen Ghana mit ihnen zu schauen. „É para ti“ (ist für dich) rufen uns die Einwohner von Parati, mit einer beschämenden Gastfreundlichkeit zu und drücken uns ein Bier nach dem anderen in die Hand. Zur sendefreundlichen Mittagszeit sehen wir, gut versorgt mit Gerstenbräu und Gegrilltem, wie Brasilien leicht und locker 3:0 gewinnt.
Auch hier lerne ich wieder etwas dazu: Sobald die Grillstäbe heiß und alle Fächer des Kühlschranks bestückt sind, interessiert das Spiel eigentlich niemanden mehr. Fußball ist in Brasilien eher ein soziales Ereignis, als ein sportliches. Alle stehen trinkend ums Futter herum und haben Spaß miteinander. Wenn die Stimme des Kommentators mal hektisch eine Oktave nach oben geht, wird kurz ein bisschen geschrieen, die Gegenmannschaft verflucht und sich im nächsten Moment wieder dem Teller gewidmet. Nur die Tore werden zelebriert. Ein ohrenbetäubendes „Gooooool“ schallt dann minutenlang durch den Ort. Die Menschen springen in die Lüfte und liegen sich glückselig in den Armen, um das Ereignis, durch eine kurze Tanzeinlage, mit beeindruckendem Hüftschwung zu beschließen.
Noch etwas Lehrreiches: Wenn die Partie abgepfiffen und gewonnen ist – die Brasilianer gewinnen nach eigener Einschätzung sowieso jedes Spiel – kommt das Wichtigste: Die Party danach! Auch für uns bedeutet das, noch drei Stunden nach Abpfiff, mit trommelnden und singenden Menschen, in einem karnevalähnlichen Festumzug, durch den Ort ziehen. Eine halbe Stunde darf ich den Mob von 3000 Leuten sogar Fahnen schwenkend anführen. Was für eine Ehre! Was für ein Erlebnis! Auch Sylvie ist jetzt Fußballfan – Gott ist Brasilianer!
Alle Einheimischen, die wir an diesem Tag treffen, rufen uns zu: „Final? Brasil – Alemanha!“, und können damit ganz schnell unsere Herzen erobern.
90 Minuten Südamerika, Mark Scheppert
ISBN: 3842353367, 2011, 11,90 €
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