1974
Es ist nichts Neues, wenn Ronald Reng mit seinem aktuellen Buch gewohnte Qualität und Lesefreude abliefert. Auch wenn in seinen vorherigen Büchern das Zwischenmenschliche stets eine wichtige Rolle eingenommen hat, ist aber diesmal doch noch etwas anderes neu. „Es ist kein Fußballbuch“, sagt er selbst im Rahmen einer Lesung in der Stadtbibliothek Leipzig. Vielmehr sei ein Fußballspiel diesmal nur der Ankerpunkt für ein Stück gemeinsam erlebte deutsch-deutsche Geschichte: das einzige Aufeinandertreffen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Natürlich sind die beschriebenen Protagonisten, deren Sichtweise die Leserschaft geliefert bekommt und deren Einblicke geliefert werden, auch Fußballspielspieler, doch im Unterschied zu den vorherigen Büchern nicht ausschließlich mit dem Fußball und Fußballspielern verbunden. Am deutlichsten wird das beim einstigen RAF-Terroristen Klaus Jünschke, dessen Sicht auf ein für ihn sportlich unbedeutendes Fußballspiel genauso abgebildet wird wie die der Schauspielerin Elfriede Neé, die bei weitem nicht so ein großer Fußballfan ist wie ihre Katze Bummi. Die springt bei den Fußballübertragungen im Fernsehen gerne vor dem Apparat herum. Doch nichtsdestotrotz bleibt der Anknüpfungspunkt aller Beteiligten ein Fußballspiel, von dem zu diesem Zeitpunkt wohl niemand ahnte, welch‘ historische Dimension es je erhalten würde.
Wie immer ist es auch ein Genuss, bei einer Live-Lesung den Ausführungen von Ronald Reng zu lauschen, all den Details, die er bei seiner Recherche herausgefunden hat und die sich auch im Buch wiederfinden. Oder aber seinen Einschätzungen bei den Fragen aus dem Publikum zuzuhören. So habe sich bei der Machtübernahme von Erich Honecker durchaus etwas Hoffnung im Land auf Besserung verbreitet, die in kulturellen und sportlichen Erfolgen ihren Höhepunkt fanden. Und so waren die Mannschaften aus der damaligen DDR wie zum Beispiel Dynamo Dresden durchaus in der Lage Bayern München Paroli zu bieten. Andere Details finden sich im Buch wieder, wie sie geradezu unscheinbar und umso überraschender auftauchen. Wie die DDR-Mannschaft zu Beginn der WM 1974 nicht mit dem ihr zugeordneten Bus fahren wollte, weil auf der schwarz-rot-goldenen Fahne Hammer und Sichel fehlten oder in Hamburg die Aufführung von Elfriede Neé trotz des parallelen Fußballspiels ausverkauft war.
Hauptaugenmerk liegt im Buch aber auf der deutsch-deutschen Geschichte. Als sportinteressierten Menschen, der sich bisher wenig damit befasst hat, ist mir Historisches noch nie so interessant und greifbar vermittelt worden. Es bleibt indes zu hoffen, dass sich der von Ronald Reng geäußerte Wunsch noch erfüllen wird, mit dem Buch eine jüngere Zielgruppe zu erreichen, für die die DDR so weit weg ist, wie im Garten einem Idol Günther Netzer nachzueifern, statt einem Messi oder Ronaldo oder eher einem Bellingham oder Sané.
Wie immer bei den Büchern von Ronald Reng sind seine Sätze so sorgfältig aufgebaut wie seine Gesprächspartner ausgewählt sind. Behutsam nähert sich das Buch einem fragilen Lebensgefühl, das zu dieser Zeit zu bestehen scheint, einer zarten Hoffnung, dass sich etwas in der DDR gerade zum Positiven wendet, während an eine Wende und die Wiedervereinigung nur wenige Bewohner zu glauben scheinen. Das deckt sich womöglich mit der fehlenden Zuversicht, dass der DDR an diesem 22. Juni 1974 die Überraschung gelingen könne und sie das Bruderduell gegen die Bundesrepublik Deutschland für sich entscheiden könne.
Dabei legt das Buch auch die Schwächen eines vermeintlich klassenlosen Systems offen, da es dieses in Reinform offenbar nicht geben kann, wie das Beispiel Gerd Kische eindrucksvoll zu zeigen vermag. Als Nationalspieler hat er Möbel in seiner Wohnung stehen, nach deren Herkunft seine Eltern nicht einmal zu fragen trauen – und fortan den Mantel des Schweigens hüllen.
Und so besitzt auch dieser Ausflug in die Geschichte eine Anknüpfung an die Gegenwart, in der mancherorts wieder die Systemfrage gestellt und ein Gegenentwurf zur Demokratie mehr als nur diskutiert wird.